In den letzten Wochen ist zweierlei geschehen, was zusammen genommen in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden kann:
Zum einen hat China nun die amerikanische Produktion überholt und ist nun ganz offiziell die größte Wirtschaftsmacht der Welt; nach den Zahlen des IWF beläuft sich die chinesische Wirtschaftsleistung auf 17,61 Billionen Dollar, die der USA auf 17,4. Auch wenn die Mainstream- Medien dieser Nachricht kaum Beachtung geschenkt haben, so halten wir hingegen diesen Stabwechsel für ein Ereignis von historischer Bedeutung. Zum ersten Mal seit dem frühen 20. Jahrhundert sind die USA nicht mehr die weltweit größte Wirtschaftsmacht (1)!
Schaubild 1: Chinas (blau) und USAs BIP (rot), entsprechend der jeweiligen Kaufkraft, in Milliarden Dollar, 2002 – 2019. Quelle: Financial Times
Zum anderen scheitern die USA in ihren Bemühungen, das überbordende Chaos im Irak einigermaßen unter Kontrolle zu halten, kläglich. Es ist gerade einmal ein paar Monate her, dass die USA in der Ukrainekrise so taten, als wären sie militärisch stark genug, einen Krieg mit Russland riskieren zu können. Und nun zeigt sich, dass sie nicht einmal in der Lage sind, einer Terrorbande Herr zu werden. Rückblickend wirken nun ihre Versuche, sich als Militärsupermacht aufzuspielen, schlichtweg lächerlich. Heute weiß alle Welt, dass die USA die berühmten Hunde sind, die bellen, aber nicht beißen.
An diesen beiden Geschehnissen lässt sich ablesen, dass nun eine wichtige Etappe im Ablauf der umfassenden weltweiten Krise absolviert ist. Heute ist China die neue Supermacht. Die neue Weltordnung wird von der chinesischen Dominanz geprägt.
Zurzeit ist der chinesische Premierminister zum Staatsbesuch in Europa und Russland (2). Und er bringt einiges an Verträgen, an Investitionsprojekten und Geschäftsmöglichkeiten (3) im Handgepäck mit. Es ist geradezu ein Marshallplan für den Wiederaufbau der europäischen und der russischen Wirtschaft, die teilweise von den Kämpfen in der Ukraine massiv in Mitleidenschaft gezogen waren (4). Da können Russland und Europa natürlich nicht nein sagen. Aber können wir gegenwärtig sicher sein, dass Europa auf diese Weise nicht in eine Abhängigkeit zu China schlittert, so wie es bisher von den USA abhängig war? Schließlich war auch Ziel des US- Marshallplans nach dem 2. Weltkrieg, die europäische Wirtschaft an die amerikanische zu binden.
China hat bereits die Londoner City vor dem Konkurs gerettet, weil die City als erster Finanzplatz außerhalb Chinas chinesische Staatsanleihen herausgeben darf (5). Kein Wunder, dass nun England mit Verve dafür eintritt, den Yuan in das System der IWF- Sonderziehungsrechte zu integrieren. Auch heißt es, die EZB denke darüber nach, Währungsreserven in Yuan vorzuhalten (6). Und Europa findet sich in der Rolle, die ihm auf den Leib geschneidert ist, nämlich als Steigbügelhalter der neuen Weltordnung, die die alte Weltordnung ablöst. Aber es wäre schön gewesen, wenn Europa diese Rolle aktiv, als Ausfluss seiner Vision von einer wünschenswerten Entwicklung, angenommen hätte (7), statt ausschließlich von Geschäfts– bzw. Überlebensinteressen zu dieser Politik gezwungen zu sein.
All diese Aktivitäten zwischen Europa, Russland und China werden in den nächsten Tagen ihren Höhepunkt im ASEM- Gipfel in Mailand vom 16./17. Oktober finden. Dieses Treffen von Staats- und Regierungschefs aus Asien und Europa könnte sehr wohl Einzug in den Geschichtsbüchern finden, wenn es dort gelingt, die europäischen und asiatischen Interessen zu koordinieren; im Rahmen von ASEM könnten Asien und Europa gemeinsam die Instrumente für die Lösung der Euro-Krise, der Ukrainekrise, der europäisch-russischen Krise sowie der umfassenden weltweiten Krise liefern. Das Treffen wäre damit der Moment, an dem man den endgültigen Übergang von der alten in die neue Weltordnung verorten könnte. Sicherlich wäre ein Euro-BRICS-Gipfel (8) geeigneter gewesen, um die neue Weltordnung aus der Taufe zu heben, da er die neue Realitäten der kommenden multipolaren Weltordnung exakter abgebildet hätte; aber die Zeit drängt und immerhin werden drei der fünf BRICS vor Ort sein (Russland, Indien, China). ASEM wird, was zumindest Wirtschaftskraft, Bevölkerung und Anteil am Welthandel anbelangt, weitgehend repräsentativ für die neuen globalen Kräfteverhältnisse sein. Und vor allen Dingen werden die USA außen vor bleiben. Dies ist unabdingbar, da die USA keine Gelegenheit versäumen, die Anpassung der Weltordnung an die neuen Realitäten zu hintertreiben und zu sabotieren.
Der Erfolg dieses Treffens wird allen europäischen Entscheidern vor Augen halten, welch immenser Unterschied zwischen den Zukunftsaussichten eines weiteren Bündnisses mit den USA (was immer auf Kriegsbeteiligungen hinausläuft) und den Perspektiven einer strategischen Annäherung an Asien (was einen wirtschaftlichen Aufschwung verheißt) besteht (9). Wir gehen davon aus, dass die Hoffnungen, die mit diesem Treffen genährt werden, insbesondere zur Folge haben werden, dass der schon heute so sehr in der Kritik stehende transatlantische Freihandelsvertrag TTIP endgültig beerdigt wird (10).
Unsere Leser wissen, dass wir dem unaufhaltbaren Aufstieg Chinas nicht mit Sorge begegnen. Aber Politische Antizipation muss auch berücksichtigen, dass das politische System in China sich wandeln, dass die neu errungene Weltmachtposition Versuchungen, die neue Stärke zu missbrauchen, wecken, dass die wirtschaftliche Lage sich ändern kann. Europa muss daher den notwendigen Aufwand treiben, auch gegenüber einer neuen Supermacht in der Lage zu sein, seine Unabhängigkeit zu bewahren.
Insoweit sehen wir in einem weiteren Punkt Anlass für Optimismus. In Europa sind die ersten Studentengenerationen, für die Europa dank des Erasmus- Programms und der gesamteuropäischen Ausrichtung der Universitätsausbildungen zur Lebensrealität geworden ist, inzwischen 40 bis 50 Jahre alt und haben in ihren Arbeitsbereichen Positionen erreicht, auf denen sie Einfluss ausüben können. Ihre Fähigkeit, sich auf eine multipolare Welt einzustellen, ist unvergleichlich stärker ausgeprägt als die der Eliten der früheren Generationen, die nur national oder in den USA ausgebildet waren und die im besten Fall gerade einmal Englisch als Fremdsprache beherrschten. Dank Erasmus hat Europa alle Trümpfe in der Hand, um trotz seiner relativ geringen Größe auch weltweit von Bedeutung zu sein: Europäische sprachliche und kulturelle Vielfalt machen es diesen Generationen leichter, offen für die Welt zu sein und ihre Komplexität zu verstehen.
Wir können also abschließend festhalten, dass die Entstehung der multipolaren Welt sich wieder entlang der von LEAP vorhergesagten Linien vollzieht. Lediglich war ihre Genese schwieriger und verworrener als sie hätte sein müssen, wenn der Übergang aktiv betrieben worden wäre . Und die neue Welt wird auch stärker von China dominiert werden, als dies wünschenswert ist.
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