Da Europa offensichtlich nicht in der Lage ist, die Zukunft zu denken oder gar zu gestalten[1], verharrt die Welt von vor der Krise[2], « die Welt von Gestern » in einer Trotzstarre, verheddert sich in ihren ideologischen Fallstricken und leiert unaufhörlich und bis zum Abwinken ihre „Wahrheiten“ der Vergangenheit herunter. Sein erbärmliches Verhalten beeinflusst die Entwicklung der „Welt von Morgen“, die damit weniger multipolar und viel chinesischer sein wird; und in der der Westen über deutlich geringeren Einfluss verfügen wird. Der Westen glaubt von sich, das Maß aller Dinge zu sein und verspielt in seiner Selbstüberschätzung seine Zukunft. Denn die Zukunft gehört nur dem, der sich anzupassen vermag. Aber das vermag nur jemand zu verstehen, der die Darwin’sche Entwicklungstheorie[3] akzeptiert und dem Kreationismus abgeschworen hat[4].
2015 werden die « Welt von Gestern » und die « Welt von Morgen » nicht ineinander übergehen, sondern nebeneinander bestehen. In der aberwitzigen Hoffnung, seine Welt zu retten, wird der Westen alles daran setzen, deren wichtigen Parameter zu retten: Finanzmärkte, Banken, Dollar, Nato, Unilateralismus, Wirtschaftsliberalismus usw.
Jedoch entsteht gerade ein neues System (China, BRICS, Neu-Europa, Internet), das maßgeblich Einfluss auf die Art und Weise nehmen wird, wie die gigantischen Probleme des ersten Quartals gemeistert werden. Der Ausgang dieses Kampfes wird über die Natur des zweiten Semesters entscheiden: Beginn der Anpassung der ‚Welt von Gestern“ an die Realitäten des 21. Jahrhunderts oder Beharren auf Fehlentwicklungen des Systems, bis hin zu einem Abdriften in ein totalitäres System; damit würde mittelfristig (maximal 5 Jahre) die Bedingungen für einen Untergang des Westen im kollektiven Selbstmord geschaffen. Und die Europäer wissen sehr genau, was das bedeutet.
In dieser Pressemitteilung, Sie werden lesen Sektion Perspektiven, Kapiteln :
Je suis Charlie – est-ce vrai?[5]
Wir hatten es vorhergesagt, dass die Explosion der Spannungen im Mittleren Osten umgehend auf die europäischen Staaten durchschlagen und unsere Demokratien großen Gefahren aussetzen würde[6].
Die Ukrainekrise hat die strukturelle Schwäche des europäischen politischen Systems offengelegt, das von seinen Bürgerinnen und Bürgern abgekoppelt ist. Europa hat 2014 mit großem Schrecken erkennen müssen, dass es nicht in der Lage wäre, einen Krieg in Europa zu verhindern; 2015 gelingt in Europa die Rückkehr der Politik: Die Kommission Juncker ist fest entschlossen, ihrer Arbeit n die notwendige politische Legitimation zu verschaffen, die nationalen Regierungen erkennen endlich, dass für Europa die Stärke in der politischen Union liegt und die Bürgerinnen und Bürger engagieren sich massiv.
All das wäre eher beruhigend, wenn all dies sich in einem weitgehend gefestigten System und einer stabilen Gesellschaft abspielte. Aber dies ist nicht der Fall. Vielmehr steht Europa bevor, durch Terroraktionen erschüttert zu werden, begangen von Einzelnen oder Gruppen, die zwar in Europa leben, aber hier schlecht integriert sind und sich direkt betroffen und angegriffen fühlen von den schrecklichen Entwicklungen im Mittleren Osten. In einem solchen Kontext kann die Rückkehr der Politik auch ungewünschte Formen annehmen.
Den schrecklichen Auftakt bildeten der Anschlag gegen die Redaktion des französischen Satireblatts Charlie Hebdo und die Folgeverbrechen. Das hätte natürlich den Anlass für ein Aufflammen des Rassismus in Frankeich und darüber hinaus in ganz Europa sowie für freiheitsbeschränkende Sicherheitsmaßnahmen bieten können.
Aber diesmal wurden die Menschen in Europa positiv überrascht : Francois Hollande gelingt eine beinahe perfekte Krisenkommunikation; er nutzt die verständliche Furcht vor einer sozialen Explosion, um die kollektive Emotion, die sehr wohl ins Rassistische hätte gleiten können, in Richtung einer präzisen Differenzierung zwischen Islam und Islamismus und der Bekenntnis zu Solidarität mit den Bürgern anderer Religionen und nationalem Zusammenhalt zu lenken.
Am 11. Januar demonstrieren beinahe vier Millionen Menschen in Paris, Frankreich und der Welt, in Paris angeführt von 40 Staats- und Regierungschefs[7] ; das ist wahrlich ein historisches Ereignis und strahlt eine gute Botschaft aus, auch wenn man sich Fragen zur wahren Motivation vieler Teilnehmer stellen kann.
Die war sicherlich vielfältig : Bekräftigung der republikanischen Werte und Sorge um den Bestand der Demokratie, Ausdruck der Verzweiflung über eine unzureichend integrierte islamische Minderheit, das Bemühen, Gemäßigte aller religiösen Gemeinschaften zu versammeln, Ruf nach Sicherheit und Ordnung, Ruf nach Freiheit, Rassismus und Toleranz… von allem etwas gab es in diesem Marsch gegen die Attentate. Aber letztendlich, und darauf kommt es in der Summe an, war die Nachricht eine von Offenheit und Gemeinsinn und damit ein Erfolg.
Aber diese Megademonstration ist nicht das Ende der Geschichte. Nach den Attentaten explodierte die Zahl der anti-islamischen Übergriffe. Die Polizei ist gereizt und kontrolliert junge Araber, wo immer sie ihr begegnen. Es gibt Stimmen, die eine europäische Gesetzgebung im Stil des US- Patriot Act verlangen. Viele Muslime finden die neue Titelseite von Charlie Hebdo mit einer weiteren Karikatur ihres Propheten gar nicht lustig… Das alles sind Hinweise darauf, dass die konkrete Gefahr besteht, dass die Religionsgemeinschaften und Ethnien sich weiter fanatisieren könnten und damit auch die Gefahr von Gewaltausbrüchen wächst.
Im Übrigen bedeuten die Forderungen nach radikaler Meinungsfreiheit auch das Ende des Tabus der Kritik an Israel und den Juden. Wenn die Mohammed- Karikaturen nicht unter Rassismus fallen, besteht auch die Gefahr, dass gewisse andere „Witze“ auch nicht mehr als „antisemitisch“ eingestuft werden. Eigentlich ist es eine gute Sache, dass wieder verstärkt das Recht eingefordert wird, auch über Dinge Witze zu reißen, die andere für sich als heilig erklärt haben, aber der Zeitpunkt ist alles andere als günstig. Jeder muss sich darüber im Klaren sein, dass 2015 ein massives Risiko für rassistische und antisemitische Exzesse besteht.[8].
Dabei erlauben die französischen und europäischen Gesetze, die mit dem geschichtlichen Wissen um die Gefahr von Religionskriegen und allgemeiner Intoleranz entstanden sind, keine grenzenlose Meinungsfreiheit. Dies mag in den USA anders sein, wo die Meinungsfreiheit praktisch keine Einschränkungen kennt[9], auch wenn sie de facto als solche nur im nicht-politischen Raum praktiziert wird. Die politischen Organe und Personen pflegen hingegen einen sehr bedachten Diskurs unter ständiger Beobachtung des ungeschriebenen Codes der politischen Korrektheit, insbesondere wenn es um Fragen von Minderheiten und Religion geht. In Europa wurde der Idee der politischen Korrektheit hingegen weniger Raum gegeben, weil die Meinungsfreiheit schon gesetzlich enger gefasst ist.
Eines ist sicher: Wenn die europäischen Muslime von nun an alle schlechten Witze über ihre Religion und Kultur[10] im Namen der sakrosankten Meinungsfreiheit akzeptieren müssen, vergleichbares gegenüber Homosexuellen, Juden etc. aber verpönt bleibt, treibt dies in unsere Gesellschaft den Keil noch tiefer. Es muss also sichergestellt werden, dass diese Forderung nach beinahe schrankenloser und damit respektloser Meinungsfreiheit zu gleichem Maßen gegenüber allen gesellschaftlichen Gruppen ausgeübt wird. Sonst ist damit zu rechnen, dass eine Welle von Provokationen und rassistischen Beleidigungen über Europa zusammenschlägt. Auch bei der Meinungsfreiheit gibt es ein Maß und auch Meinungsfreiheit muss mit Respekt und Verantwortung ausgeübt werden.
Nach dem 11. Januar 2015 bleiben nicht nur die Erinnerungen an eine fantastische bürgerliche Mobilisation, sondern auch viele Fragen über die Möglichkeiten, die sich unserer Gesellschaft bieten, die aufkommende rassistische Gewalt unter Beachtung unserer demokratischen Grundprinzipien einzudämmen. Das wird im Jahr 2015 die große politische Aufgabe sein.
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[1] In dieser umfassenden weltweiten Krise fiel Europa eine historische Rolle des Wegbereiters einer neuen multipolaren Weltordnung zu, die so sehr auch seinem eigenen Wesen entspricht. Seit der Ukrainekrise hat es aber seine Glaubwürdigkeit verspielt, die ihr ermöglicht hätte, diese Rolle auszufüllen. Die Ukrainekrise hat bis zu einem gewissen Grad Europa der Fähigkeit beraubt, Katalysator des Übergangs zu sein. Die Kräfte, die sich dagegen stemmen, dass Europa diese Rolle ausfüllt, sind immens und trotz der Anstrengungen einer wachsenden Zahl von Akteuren in Europa bleibt wahrscheinlich, dass nach dem ersten Quartal nichts Positives zu Buche schlagen wird. Aber die Widerstandsfähigkeit Europas wird nun getestet und es gibt auch einige Elemente, die hoffungsvoll stimmen. Noch ist die Lage undurchsichtig. Wir werden daher erst zu einem späteren Zeitpunkt unsere Vorhersagen für das zweite Quartal vorlegen.
[2] Der Begriff « Welt von vor der Krise » wurde von Franck Biancheri in seinem Buch « Nach der Krise – Auf dem Weg in die Welt von Morgen » (Verlag Anticipolis 2009) geprägt ; es ist die Weltordnung, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war, also eine Welt der sich gegenüberstehenden Blöcke, bis nach der Auflösung des Ostblocks eine Welt unter Dominanz der USA entstand, die heute nicht in der Lage ist, ihren Platz in der entstehenden neuen multipolaren Weltordnung zu finden und damit die Welt einem immensen Konfliktpotential aussetzt.
[3] Merkwürdigerweise wird diese Theorie, die in der Wissenschaft anerkannt ist, gesellschaftlich verstärkt angezweifelt und abgelehnt. Quelle: NouvelObs, 12/06/2012
[4] Religiöser Glaube, dass die Welt durch einen Akt eines schöpferischen Gottes entstanden sei und explizites Gegenmodell zur Evolutionstheorie. Quelle : Wikipédia.
[5] Ich bin Charlie- bin ich es wirklich?
[6] Im letzten Monat schrieben wir: « Abgesehen von einer Ausbreitung des regionalen Konflikts zu einem Weltkonflikt (…) ist momentan besonders beunruhigend, dass ein Hassausbruch zwischen den Religionsgemeinschaften dieser Region auch Folgen in Europa zeitigen würde. Schon heute ist die verbale Gewalt zwischen Juden und Arabern enorm und teilweise kommt es auch schon zu Zusammenstößen. Es wird sicherlich in Europa zu einem Anstieg von Antisemitismus und Rassismus kommen, wenn die Dinge so ablaufen, wie wir oben geschildert haben. Und die Gewaltausbrüche werden in unseren schon geschwächten Demokratien dazu führen, dass die Staaten sich außerstande fühlen werden, sie im Rahmen von Rechtsstaatlichkeit unter Kontrolle zu halten. Quelle : GEAB N°90, 15/12/2014
[7] Auch wenn sich inzwischen herausgestellt hat, dass sie den Demonstrationszug mit deutlichem (Sicherheits-) Abstand vom einfachen Volk „angeführt“ haben.
[8] Die erneute Veröffentlichung der Charlie Hebdo – Karikaturen in der türkischen, erdogankritischen Zeitung Cumhumuriyet ist ein erschreckendes Beispiel für das destabilisierende Potential dieser Provokationen und ihrer Verwendung von Medien, über deren Ziele man nur spekulieren kann. Im gegenwärtigen Chaos des Mittleren Ostens erfüllt eine solche Provokation, mit der Erdogan destabilisiert werden soll, geradezu den Tatbestand des Hochverrats. Die Türken haben im Gegensatz zu den Europäern nicht die Entschuldigung, sich über den symbolischen Charakter dieser Zeichnungen nicht bewusst zu sein. Daran lässt sich erkennen, in welch gefährlichem Terrain sich Europa und die Welt bewegen. Quelle: BBC, 15/01/2015
[10] Schließlich ist die menschliche bildliche Darstellung im Islam ganz allgemein verboten. Damit haben die Muslime, auch wenn sie in einer modernen und damit von Bildern dominierten Gesellschaft leben, Schwierigkeiten, die ultimativ verbotene Darstellung, die des Propheten Mohammeds, zu akzeptieren. Solche Bilder schockieren auch moderate Muslime. Wenn man von Muslimen erwartet, dass sie solche Darstellungen akzeptieren, ist dies für sie nicht gleichbedeutend mit einer Forderung nach Akzeptanz der Trennung von Religion und Staat, sondern eine Versuch, sie zu zwingen, ihre Religion aufzugeben, wozu sie nicht bereit sind. Darüber muss man sich im Klaren sein, wenn man einen Weg aus der Sackgasse finden möchte, in der sich die europäischen Gesellschaften gerade befinden.