Vor allem drei Phänomene tragen dazu bei, unser kollektives Verständnis der Realität zu verzerren: die Verlangsamung der wirtschaftlichen Aktivität und der Mobilität, der mit der Pandemie verbundene Zusammenbruch der Informationssysteme und die Wahl Bidens in den Vereinigten Staaten. Diese vermitteln den Eindruck der Ruhe nach dem Sturm des letzten Jahrzehnts, was wir wegen der dadurch bedingten verminderten Wachsamkeit für gefährlich halten. Aus diesem Grund und trotz all der schönen Möglichkeiten der Neuerfindung der Welt, die derzeit am Werk sind, hat dieses Bulletin eine aufrüttelnde Ausrichtung.
Wie Xi und Putin verzweifelt versuchen, die westlichen Verantwortlichen zu warnen[1], ist das Jahr 2021, viel mehr als 2020, eine Hochrisikozone, und zwar aus sehr systemischen Gründen, die im Titelbild dieser Ausgabe illustriert sind: Die alte Finanz-, Wirtschafts- und Gesellschaftsmaschinerie ist nicht mehr an der Größe der Ströme angepasst, die die multipolare Welt hervorbringt, und jede Ambition, sie unverändert neu zu starten, wird zwangsläufig Katastrophen produzieren.
Man muss die Botschaft der aktuellen Pandemie sorgfältig lesen: „Unser Modell war überhitzt“. Bevölkerungsdichte[2], menschliche Mobilität, Konsum, alles war im roten Bereich, entging jeglicher Fähigkeit zur Reorganisation und ließ uns ohne den Schatten eines Zweifels große Krisen antizipieren. Wir werden also das Pandemierisiko nicht durch Impfstoffe ausrotten, sondern brauchen einen Paradigmenwechsel. Ohne letzteren werden Covid19, seine Mutationen und andere Krankheiten weiterhin unsere viel zu dichten Gesellschaften beherrschen. Wir müssen uns also auf einen Quantensprung in Sachen Hygiene, reduzierte Mobilität, Vervielfachung der urbanen Zentren, Rationalisierung der Wirtschaftsströme und Schutz der Umwelt vorbereiten.
Abbildung 1 – Dichte der Weltbevölkerung 2019. Quelle: Wikipedia
Alle starrten auf eine Art „ultimative Krise“, nämlich die als Apokalypse präsentierte Klimakrise. Aber viele weitere Krisen pflastern den Weg, der es uns erlauben könnte, dieses hypothetische „Ende der Welt“ zu vermeiden: die Finanzkrise von 2008[3], die die Obsoleszenz (Überalterung) der Mechanik der Geldströme markiert; die geopolitische Krise EU-Russland von 2014, die die Obsoleszenz der bipolaren Welt des Kalten Krieges markiert[4]; die Corona-Krise von 2020, die die Unhaltbarkeit des Hypermobilitätsmodells einer Menschheit von 8 Milliarden Individuen markiert[5]; …
Jede dieser Krisen hat die Voraussetzungen für die Beseitigung ihrer Ursachen geschaffen, aber keine kann als wirklich gelöst angesehen werden – vor allem im Westen: Auch wenn nach und nach neue Währungen eingeführt werden (Euro, Yuan, Kryptos, digitale Währungen), basiert das internationale Währungssystem immer noch auf dem Dollar; die westlichen Finanzmärkte sind immer noch große Faktoren für Volatilität, Blasen und allgemeine wirtschaftliche Instabilität; das Bankensystem, obwohl es mehr reformiert und konsolidiert wurde als das Finanzsystem, stellt immer noch eine immense Bremse für die monetäre Digitalisierung dar, die die Fluidität des Handels und die Disintermediation zwischen den Staaten und den Bürgern, also den Emittenten und den Nutzern des Geldes, ermöglichen wird/würde (was eine existenzielle Krise für die Banken darstellt); der Kalte Krieg regiert und jeder scheint auf ein illusorisches Ende der Corona-Krise zu warten, um wieder mit seinem Auto zur Arbeit zu fahren und für das Wochenende nach Marrakesch zu fliegen.
Diese beiden letzten Beispiele zeigen, dass es nicht möglich ist, wieder da weiterzumachen, wo wir vorher aufgehört haben:
. Die Angst vor dem Virus hat die öffentlichen Verkehrsmittel von ihren Nutzern entleert, die zur riesigen Zahl der tagtäglichen Autofahrer hinzukommen und Staus garantieren, die keine öffentliche Investition durch den Bau neuer Schnellstraßen zu lindern versuchen wird. Diese Art von Krise wird sich selbst regulieren, indem alle, die es können, schnell begreifen, dass es tatsächlich notwendig ist, von zu Hause aus zu arbeiten.
. Was Wochenenden in Marrakesch (oder ähnlichen Orten) betrifft, werden die Europäer bald feststellen, dass der Platz besetzt ist: seit der Unterzeichnung der Abraham-Abkommen mit Marokko und der Anerkennung der marokkanischen Souveränität über die Westsahara haben Saudis, Israelis und Amerikaner ihre Riads[6] entdeckt, auf die sie bisher verzichten mussten; aber diese Art von Neuheit betrifft natürlich nicht nur Marrakesch: die multipolare Welt eignet sich ihre strategischen „Römerstraßen“[7] an … große Staus in Aussicht.
Aber diese Beispiele sind ziemlich belanglos angesichts dessen, was ein „Wie vorher“-Neustart in Form von höheren Energiepreisen und geopolitischen Spannungen auf der einen Seite und allgemeiner Inflation und gesellschaftlichen Spannungen auf der anderen Seite erzeugen wird/würde.
Aus diesen Gründen wird die Corona-Pause von zahllosen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern als Chance genutzt, den notwendigen Übergang zu beschleunigen: Die großen Konjunkturprogramme sind da, um ihn zu finanzieren, und auf europäischer Seite ist die EU ziemlich gut aufgestellt, um den gesamten Transformationsprozess zu begleiten. Diese eher vorteilhafte Situation trägt zu dem Gefühl der Ruhe, ja sogar einer gewissen Euphorie bei, die durch die Wahl Bidens auf der anderen Seite des Atlantiks noch verstärkt wird: das Auge des Hurrikans.
In der Tat erfindet, experimentiert und gewöhnt sich die menschliche Gesellschaft an ihre neuen Interaktionsformen: dank einem „alles online“, der Neuausrichtung der Aktivitäten (Beruf und Unterhaltung) auf die Orte, an denen man lebt, was die Mobilität und den damit verbundenen Konsum reduziert; dank urbaner Politik vom Typ „Viertelstundenstadt“, der Stärkung eines gesellschaftlichen Lebens und lokalisierter Dienstleistungen; dank der Dezentralisierung, der Konzentrierung auf die Familie und der Rückkehr aufs Land; usw. …
Aber ganze Bereiche des alten Wirtschaftsmodells leiden, weil sie verschwinden werden, wenn sie nicht neu erfinden: Tourismus, Sport, Gastronomie, Events, Kultur … müssen ihren physischen Fußabdruck reduzieren und sich teilweise digital neu erfinden.
Was zum Beispiel die Restaurants betrifft, so füllten sich die Großstädte mit immer mehr Etablissements, während in den Vorstädten und in der Provinz nur noch deprimierende Fast-Food-Ketten und Spelunken übrig blieben. Wir sind sicher, dass sich die Gastronomie mittelfristig ins Umland bewegen wird, was letztlich sehr gute Perspektiven für die gesamte Branche bietet. Wir sind uns aber auch sicher, dass dieser Trend eine Menge Missverständnisse, Schwierigkeiten und Ärger verspricht.
Was den Tourismus betrifft, hatten wir bereits im Juli 2019 analysiert, dass die materielle Variante qualitativ hochwertiger werden muss, während sich der Massentourismus auf die lokale Ebene (Vergnügungsparks in der Nähe von Wohngebieten) oder nach Hause (E-Tourismus) verlagern wird. Auch hier werden die Jungen und die Innovativsten sehr gute Perspektiven finden, aber die anderen werden leiden.
Usw. …
In diesem Sinne ist die Pandemie eine Krise, die uns mit relativer Sanftheit auf die Wege von nachhaltigeren Zukünften führt. Aber die Geschichte hat noch nicht ihr letztes Wort gesprochen und die negative Energieladung, die die am meisten blockierten Akteuren der Vergangenheit gerade ansammeln, lässt mächtige Schocks von „falschem Neustart“ im alten Modus antizipieren.
Unter diesen in der Vergangenheit blockierten Akteuren gibt es insbesondere einen Teil der öffentlichen Meinungsführer, die bei ihrem Verständnis der aktuellen Situation durch ein noch wenig an die neuen Realitäten angepasstes Informationssystem sehr schlecht geleitet werden. Aber es gibt auch viele starre, aus den Charakteristika des letzten Jahrhunderts entstandene Strukturen, die ebenso schwer zu deaktivieren sind, wie sie effizient darin waren, die alte Welt zu verankern. Sie harren aus und widersetzen sich dem Wandel: angefangen bei den „Staaten im Staat“, den Repräsentanten zahlreicher „Establishments“, sei es im Iran (Korps der Islamischen Revolutionsgarden) oder in den Vereinigten Staaten (Pentagon), um nur die zu nennen, die uns kurzfristig am meisten Sorgen machen.
All diese Akteure sind begierig darauf, wieder „wie vorher“ loszulegen und treiben die Gemeinschaft zur Unvorsichtigkeit. So haben beispielsweise das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten, anstatt sich mit der EU abzustimmen, wie das europäische Geschenk des BionTech-Impfstoffs[8] ihnen nahegelegt hätte, ihre Impfkampagnen durch eine Übernahme der Produktion begonnen, in der Hoffnung, nicht nur die Dauer einer Pause, die sie umbringt, zu verkürzen, sondern auch ihrem europäischen „Verbündeten“ zuvorzukommen. Damit bringen sie sich selbst, den Westen und die Welt in tödliche Gefahren, wohingegen die EU, die beschuldigt wird, die Impfkampagnen schlecht zu managen, wahrscheinlich vorhatte, sich die Zeit zu nehmen, die nötig ist, um bedeutende Teile der sozio-ökonomischen Maschine zu verändern, … eine Zeit, die sie sich wegen der Solidität der sozialen Systeme nehmen kann. Aber man wird immer von den eigenen Leuten verraten …
In dieser Ausgabe gehen wir ausführlich auf die wirtschaftlichen und geopolitischen Risiken ein, die einem Amerika drohen (und der Welt von einem Amerika drohen), das von sich selbst glaubt (und von dem die Welt glaubt), dass es wieder „normal“ geworden ist. Und wir werden die Stärken und Schwächen der europäischen Neupositionierung angesichts des sich ankündigenden US-Sturms analysieren.
Wir werden außerdem einen neuen Ausflug in die Zukunft der europäischen Raumfahrt und einen in die großen Herausforderungen des Zugangs zu Wasser im 21. Jahrhundert unternehmen. Nicht zu vergessen unsere jährliche Übersicht über im Internet zu findende Antizipationen und unsere üblichen Anlageempfehlungen.
Diskussion in der GEAB Community auf LinkedIn
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[1] In Davos riefen sowohl Xi Jinping als auch Wladimir Putin zu einem verantwortungsvollen Multilateralismus auf. Der chinesische Präsident erklärte: „Kleine Kreise zu formen oder einen neuen Kalten Krieg zu beginnen, andere abzulehnen, zu bedrohen oder einzuschüchtern, willentlich Abkopplung, Versorgungsunterbrechungen oder Sanktionen zu verhängen und Isolation oder Entfremdung zu schaffen, wird die Welt nur in die Spaltung und sogar in die Konfrontation treiben. Wir können gemeinsame Herausforderungen nicht in einer geteilten Welt angehen, und Konfrontation wird uns in eine Sackgasse führen“ (Quelle: Challenges, 25.01.2021), während Putin betonte: „Aber wie gesagt, die Situation könnte eine unerwartete und unkontrollierbare Wendung nehmen – es sei denn, wir tun etwas, um das zu verhindern. Es besteht die Chance, dass wir mit einem gewaltigen Zusammenbruch der globalen Entwicklung konfrontiert werden, der mit einem Krieg aller gegen alle einhergehen wird“ (Quelle: AgoraVox, 28.01.2021).
[2] Die Bevölkerungsdichte ist das Ergebnis dreier Faktoren, die sich zu einem exponentiellen Trend verbinden: quantitatives demographisches Wachstum (bald 8 Milliarden Menschen, 10 Milliarden für 2050 erwartet); innerhalb dieser wachsenden Bevölkerung eine Zunahme des Anteils der in das globalisierte Wirtschaftssystem integrierten Menschen; innerhalb dieser wirtschaftlich integrierten Bevölkerung eine Zunahme des Anteils der Stadtbewohner (Landflucht). Das Ergebnis ist eine Menschheit von 8 Milliarden Menschen, die zunehmend in wenige Städte gequetscht sind. Quelle: Wikipedia und GEAB Jahr 2008
[3] Quelle: PostFinance, 09.05.2018
[4] Quelle: GlobalPolicyJournal und GEAB Jahr 2014
[5] Quelle: Covid19: The end of global hypermobility, Gérard-François Dumont, Cairn, 06/2020, und GEAB Jahr 2020
[6] Quellen: France24, 17/01/2021; France24, 10/12/2020
[8] Auf die Gefahr hin, dass wir uns wiederholen, können wir immer noch nicht über den Fehler hinwegkommen, den die Angelsachsen der EU unterliefen, als sie den von der EIB finanzierten europäischen BioTech-Impfstoff zurückholten und sofort jenseits des Atlantiks für den alleinigen Bedarf der Amerikaner in Produktion gingen, während die Produktionskapazitäten, die Europa behalten konnte (in diesem Fall in Belgien), dem dringenden Bedarf der britischen Impfung dienen sollten, und die EU mit dem unglücklichen Versprechen nicht vorhandener britischer Impfstoffe zurückließen (Quelle: DailyMail, 23/01/2021) oder unwirksam (Quelle: France24, 12/02/2021). Aber die EU wird die Lektion sicher nicht vergessen…
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