Die wachsenden Schwierigkeiten, denen sich der Beitrittsprozess der Türkei zur Europäischen Union ausgesetzt sieht, kontrastiert mit der schrittweisen Erweiterung um die Länder des Balkans (Slowenien ist bereits Mitgliedstaat, Kroatien beginnt die Beitrittsverhandlungen, und die Initiativen für eine Erweiterung um die anderen Balkanländer werden immer zahlreicher).
Dieser Kontrast ist umso auffälliger, wenn man die Entwicklung der öffentlichen Meinungen in den verschiedenen betroffenen Ländern miteinander vergleicht. In der Türkei wird die EU und die Beitrittsperspektive seit Dezember 2004, Datum des symbolischen europäischen Plazet für die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen immer weniger positiv gesehen; in den Staaten, die aus dem Auseinderbrechen von Yougoslawien entstanden sind, verläuft diese Entwicklung genau in die entgegen gesetzte Richtung.
Bei den öffentlichen Meinungen in den Mitgliedstaaten der EU stellt die Forschungsgruppe von LEAP/E2020 vor dem Hintergrund eines allgemeinen Überdrusses der endlosen Erweiterung Tendenzen fest, die diese auseinander laufenden Entwicklungen zu erklären vermögen: Die Menschen in Europa lehnen nunmehr weitere Erweiterungen ab, wenn in ihnen zwei Elemente vorherrschen:
Zum einen, wenn die Erweiterungen so bedeutend sind, dass sie die allgemeine Austarierung der aktuellen Gleichgewichte in Frage stellen, zum anderen, wenn diese Erweiterungen nicht die Europäische Integration zum Abschluss führen, sondern vielmehr durch die Beitrittskandidaten sich neue Fragen und neue Probleme stellen würden, die die Antwort auf die Frage nach der europäischen Identität und Grenzen auf die griechischen Kalenden verschöbe.
Unter diesen Bedingungen ist es nicht überraschend, dass der Widerstand in der Bevölkerung gegen einen Beitritt der Türkei und der Ukraine zunimmt (wobei die letztere noch nicht einmal über einen Kandidatenstatus verfügt), während die mögliche Erweiterung um Balkanländer keinen besonderen Widerspruch hervorruft (wenn auch diese Perspektive keine Begeisterung aufkommen läßt). Denn eine Erweiterung um die Türkei oder die Ukraine würde eine Neubestimmung der Identität der Europäischen Union und ihrer Grenzen erfordern; dahingegen wird die Erweiterung um den Balkan als Abschluss des Projekts der Einigung des Kontinents, wie er vor 50 Jahren begonnen wurde, angesehen. Darüber hinaus ist die Bevölkerung der Balkanstaaten im Verhältnis zur Gesamteinwohnerzahl der EU nicht so bedeutend. Dahingegen würde ein Beitritt der Türkei oder der Ukraine den demographischen Status-quo massgeblich verändern…
Für mehr, GEAB 6 / 16.06.2006