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GEAB 169

Der monatliche Informationsbrief des Laboratoire européen d'Anticipation Politique (LEAP) - 15 Nov 2022

Editorial: Der Humanismus ist tot, es lebe die KI

Hat Ihnen der Transhumanismus gefallen? Dann werden Sie den Posthumanismus lieben!

Während der der erste die Erweiterung des Menschen anstrebte, aber immer noch seine zentrale Bedeutung betonte, beabsichtigt der zweite, den Menschen und den Humanismus endgültig zu überwinden und die von ihm geschaffenen Werkzeuge in den Mittelpunkt des Gebäudes zu stellen. Die Präfixe sind von Bedeutung: „trans“ steht hier für „darüber hinaus“ und bezeichnet somit die Elemente, die über den Menschen hinausgehen; „post“ zeigt auf „das, was danach kommt“ und etabliert somit das, was nach dem Humanismus kommt[1].

Aus der Sicht unseres Teams ist der erste hypothetisch und gehört zu dem utopistischen Genre, das (zu) leicht in eine Dystopie umschlägt[2]. Der zweite wird in jedem Fall kommen, denn der Humanismus ist wie jede Ideologie nicht ewig und wird von einem anderen Paradigma abgelöst werden. Lassen Sie uns einen Moment auf diesen Begriff schauen, dessen Inhalt weltweit viele Strategien motivieren könnte. Was könnte nach dem Menschen kommen, aus dem Blickwinkel des andauernden Fortschritts, zu dem sich die Advokaten dieser Art von Theorie zweifellos bekennen?

Es könnte durchaus einen Bruch geben. Schließlich schwankte die Welt schon immer zwischen Humanismus (der den Menschen in den Mittelpunkt stellt) und Idealismus (der die Ideen des Menschen in den Mittelpunkt stellt). Zwei große Formen der zweiten Kategorie sind leicht zu erkennen: Religionen und Ideologien. In beiden Fällen handelt es sich um „menschliche Ideen“, die zu einem bestimmten Zeitpunkt beginnen, eine vorherrschende Stellung einzunehmen: die Religionen sind immer aus einem Pendelschlag hin zum Menschen entstanden, bevor sie diesen unter ihren Dogmen und Zwangsjacken zermalmen; die Ideologien sind aus humanistischem Idealismus entstanden, um den Menschen unter ihren Absolutismen zu zermalmen (von der Freiheit zum Terror, vom Marxismus zum Stalinismus, vom Futurismus zum Faschismus, vom Kapitalismus zum Neo-Totalitarismus[3], oder auch von der Ökologie zum Ökofaschismus oder Ökototalitarismus[4] , …).

Wenn wir den Posthumanismus in der Kontinuität des Transhumanismus betrachten, dann sind es die menschlichen Schöpfungen zur Überwindung des menschlichen Daseins, die zum Glaubensbekenntnis, zu Gottheiten erhoben werden. Hier liegt der Bruch, denn Religionen und Ideologien sind Systeme zur Organisation menschlicher Gesellschaften. Diese neue Etappe wird uns den Glauben an materielle Schöpfungen zur Verbesserung unserer physischen (durch die Einnahme von „Medikamenten“ oder durch direkte Operation am Körper) und intellektuellen (künstliche Intelligenz) Fähigkeiten vorschlagen. Es geht nicht mehr darum, an die Existenz eines Gottes oder die Relevanz einer politischen Idee zu glauben oder daran zu zweifeln – all das ist nur noch materiell.

Es überrascht nicht, dass die große humanistische Bewegung, die das Internet hervorgebracht hat, nun in diese totalitäre Phase mündet, in der das Werkzeug über die Menschen, die es erfunden haben, gestellt wird. Auch wenn diese Perspektive für die nächsten 20 Jahre nichts Gutes verheißt, so macht sie doch deutlich, dass die Menschheit gerade beginnt, einen neuen Rückschlag der Geschichte zu durchlaufen, aber auch, dass alle Hoffnungen auf das Ende der nun beginnenden düsteren Zeit berechtigt sind.

 

Abbildung 1 – Darstellung der verschiedenen Ideologien, die mit dem Transhumanismus und Posthumanismus in Verbindung stehen. Quelle: hpluspedia

 

Wenn wir die Überwindung des Humanismus und damit das Aufkommen einer Form des Posthumanismus als unvermeidlich ansehen, dann liegt das daran, dass bereits jetzt aus mindestens drei Gründen ein fruchtbarer Nährboden vorhanden ist:

Während der Lockdowns im Jahr 2020 entstand in den sozialen Netzwerken unter dem Slogan „we are the virus[5] ein aufschlussreicher Trend. Als einige Menschen die Rückkehr von tierischem Wildleben in bewohnte Gebiete, in denen die Wildnis schon fast ausgerottet war, konstatierten, sahen sie sich selbst als intrinsische Ursache der Naturzerstörung und betrachteten diese Manifestationen blühender Biodiversität als eine Form legitimer Rache[6]. Die logische und erschreckende Fortschreibung dieser Argumentation ist eine Ausrottung der Menschheit, die ja ein Virus ist, um Platz für die Wildnis zu schaffen, die ihre rechtmäßige Stellung auf der Erde einnimmt. Ein Schritt, den die Mehrheit dieser Internetnutzer glücklicherweise nicht ging.

Dennoch ist in der jungen Generation in vielen Ländern der Welt ein Verlust des Glaubens an die Menschheit festzustellen. Eine ehrgeizige Studie befragte 10.000 Personen im Alter von 16 bis 25 Jahren in zehn verschiedenen Ländern, um ihre potenzielle Angst in Bezug auf Klimafragen auszuloten. Auf die Frage „Ist die Menschheit dem Untergang geweiht?“ antworteten 55% mit Ja[7].

Die Menschheit hat den technologischen Fortschritt so weit vorangetrieben, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung heute täglich Werkzeuge benutzt, deren Funktionsweise sie nicht klar erklären kann[8]. Ein Smartphone oder ein Computer sind kein Hammer oder keine Säge. Die meisten von uns sind nicht in der Lage, alle digitalen und elektronischen Werkzeuge, die für unser tägliches Leben unerlässlich geworden sind, zu verstehen, zu reparieren und somit wirklich zu beherrschen. Dieser Mangel an Beherrschung und Verständnis impliziert eine Form von Vertrauen, oder sogar Glauben an die Effektivität unserer Werkzeuge[9]. Ein Glaube, der von denjenigen unter uns, die eben diese Werkzeuge beherrschen, zynisch ausgenutzt werden könnte, selbst wenn diese vollständige Beherrschung ein Trugschluss wäre[10]. Auf ähnliche Weise haben die Religionen, weil wir nicht wissen und nicht wissen können, was nach dem Tod kommt, mit dem Versprechen eines Paradieses, eines ewigen Lebens floriert und sich so die Mittel verschafft, um Dogmen durchzusetzen.

Wenn die Menschheit dazu verdammt ist, wie ein Virus in seinem Lebensraum zu agieren und über Werkzeuge zu verfügen, die sie für effektiver hält als sich selbst, dabei aber nicht in der Lage ist, sie vollständig zu verstehen … was kann dann „das, was danach kommt“ verhindern, ja sogar „das, was hinausgeht“ über sie selbst, die Menschheit, und über das, was sie als das geschaffen hatte, was dem menschlichen Dasein am nächsten kommt, den Humanismus?

Deshalb haben wir diese Ideen in den folgenden beiden Artikeln untersucht. Der erste ist dem Sport gewidmet, weil wir Athleten nach klaren Bewertungskriterien kollektiv als die Besten unter uns anerkennen. Wenn wir unsere eigenen körperlichen Fähigkeiten augmentieren müssen, wäre es logisch und vor allem gesellschaftlich akzeptabler, mit diesem Bereich zu beginnen. So konnten wir testen, wie realistisch diese Ideologien sind, hier wird künstliche Intelligenz bereits in großem Umfang eingesetzt, auch wenn der augmentierte Sportler noch ein Mythos ist. Es war natürlich auch eine Gelegenheit, die geopolitischen Auswirkungen der Organisation internationaler Veranstaltungen zu antizipieren, für die die Fußballweltmeisterschaft in Katar ein Sinnbild ist. Der zweite ist der posthumanistischen Fiktion gewidmet, weil wir ihr die imaginative und die therapeutische Kraft zuerkennen, die notwendig sind, um Umwälzungen von solch potenzieller Tragweite zu begreifen.

In der Hoffnung, dass diese Seiten Ihren Glauben an die Menschheit nicht beeinträchtigen, wünschen wir Ihnen eine gute Lektüre.

Diskussion in der GEAB Community auf LinkedIn.

______________

[1]     Quelle: The Conversation, 10/02/2021

[2]     Obwohl man sein Realisationspotential nicht unterschätzen sollte, dort wo er globale wirtschaftliche und politische Schwergewichte anzieht. Quelle : Darren Winters, 02/10/2018

[3]     Quelle: Revue l’Esprit libre, 04/11/2015

[4]     Quelle: Wikipedia (fr)

[5]     Siehe z.B. auf twitter

[6]     Quelle: Sage Journals, 10/06/2020

[7]     Die Herkunftsländer der Befragten sind: Australien, Brasilien, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Nigeria, Philippinen, Portugal, Vereinigtes Königreich und USA Quelle: The Lancet, 12/2021

[8]     Quelle: Wired, 08/01/2014

[9]     Eine Idee, die in dem Roman Foundation aus dem Foundation-Zyklus von Isaac Asimov (Gnome Press, 1951) verwendet wird vor allem in Bezug auf die Nukleartechnologien. In der vom Autor erdachten Gesellschaft sind Kernkraftwerke so effizient und langlebig, dass die Menschen, die sie warten, von Generation zu Generation nicht mehr wissen, wie sie funktionieren, da sie nie eingreifen mussten. Diese Inkompetenz wird dann von den Mitgliedern der Foundation, die ihrerseits für die Weitergabe dieses Wissens gesorgt haben, ausgenutzt, um die Religion der Wissenschaft zu etablieren …

[10]   Quelle: Interesting Engineering, 06/04/2019

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Zusammenfassung

Selten hat ein Sportereignis vor seinem Start für so viel Gesprächsstoff gesorgt. Die Fußballweltmeisterschaft in Katar beginnt diesen Monat. Sie ist ein Indikator für den Umschwung, den das globale System [...]

Dieser Artikel wurde von Mara Magda Maftei verfasst, Universitätsprofessorin an der Universität für Wirtschaftsstudien in Bukarest, Gastwissenschaftlerin am Collège d'Études Mondiales, Doktor der Französischer Literatur (2009), Doktor der Geschichte des [...]

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