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Der monatliche Informationsbrief des Laboratoire européen d'Anticipation Politique (LEAP) - 15 Jan 2021
Pressemitteilung

Wie jeder lebende Organismus ist unsere Welt in Leiden, Blut und Exkrementen (und der Krankheit) gestorben. Wie jeder lebende Organismus wird eine neue Welt in Leiden, Blut und Exkrementen (und der Impfung) geboren. Das Baby wird sehr schnell wachsen und sich verändern und auf seinem Weg die Freiheit und den gesunden Menschenverstand seiner Eltern zerquetschen. Dann wird es eine Adoleszenzkrise durchleben, die je nach seinen natürlichen Veranlagungen und der erhaltenen Erziehung mehr oder weniger heftig sein wird. Bevor es sich für eine Weile stabilisiert …

Antizipation, um die richtigen Wege einzuschlagen

Da die gesellschaftlichen Zeitspannen durch die Zeitspannen ihrer Bestandteile, und diese sind hier der Mensch, erzeugt werden, stehen wir jetzt vor gut zwanzig Jahren (einer Generation) voller Schwierigkeiten und Krisen des Wiederaufbaus und der Stabilisierungsbemühungen. Während dieser Periode müssen wir Wege finden, einen möglichst kühlen Kopf zu bewahren, denn je weniger gut die Schocks bewältigt werden, desto mehr werden sie die folgenden Zyklen heimsuchen. Aber die vor uns liegenden Krisen werden, auch wenn sie in der Vergangenheit verwurzelt sind, Formen annehmen, die für die Welt von Morgen charakteristisch sind, also neue und ungewöhnliche, schwieriger sich vorzustellende und zu erkennende.

Es wird wichtiger denn je sein, zu versuchen, die sich anbahnenden Schocks und Transformationen im Voraus zu erkennen. Und gleichzeitig wird es notwendig sein, der einfachen Beobachtung der Zukunft einen zielgerichteteren und strategischeren Ansatz hinzuzufügen mit der Intention, eine Vision zu schaffen, die unvermeidlich die Form eines neuen Humanismus annehmen wird, um eine Chance zu haben, die Welt zu stabilisieren und eine Menschheit, die jetzt in einem einzigen Boot sitzt, zu wünschenswerten und verträglichen Horizonten zu führen.

Wenn Corona derzeit die Gesellschaften voneinander abtrennt, ist dies nur vorübergehend. In der Tat lautet die ohrenbetäubende Botschaft dieser Pandemie: „Wir sind alle mit allen verbunden„. Sicherlich müssen die Globalisierung neu organisiert, die menschliche Mobilität rationalisiert, die Wirtschafts- und Energiemodelle vereinfacht werden, um sie mit der Zukunft kompatibel zu machen, … aber ein dauerhafter Rückzug in abgeschottete und autarke Einheiten ist nicht zu erwarten.

Erfindung von guten Governance-Modellen

Auch wenn die italienische Präsidentschaft der G20 im Jahr 2021 ihr Möglichstes tun wird, um die Dynamik in Gang zu setzen[1], ist tragischerweise in diesem Jahr 1 des digitalen Zeitalters[2] nichts und niemand in der Lage, die Menschheit auf die Wege dieser Reorganisation zu führen, die sowohl die Teile als auch die Gemeinschaft betrifft (in varietate concordia[3]). Die ganze Herausforderung dieses Jahrzehnts (oder sogar dieser beiden Jahrzehnte) liegt in der Erfindung eines politischen Modells, das dieser titanischen Mission gerecht wird.

Die Ideen und Technologien sind da, um die Lösungen der Zukunft zu realisieren. Aber diese Lösungen selbst sind vielfältig, die Akteure ihrer Erfindung/Implementierung sind zahlreich und unterschiedlich (Staaten, Giga-Unternehmen, religiöse Gruppen, Lobbys, usw. …), und es wird notwendig sein, Wege zu einem guten Governance-Modell zu finden, eines, das in der Lage sein wird, alle mehr oder weniger in Übereinstimmung zu bringen, und das auf anderen Wegen als denen der Gewalt.

Verständnis des neuen Europas

Die gegenwärtige zivilisatorische Krise ist im Wesentlichen eine des Westens und in diesem Westen stellt die EU[4] mit ihren Erfolgen wie auch ihren Misserfolgen weiterhin ein in vivo-Experiment dar, wie verschiedene kulturelle Einheiten konstruktiv koexistieren können. Nach 25 Jahren Elend und Fehlern (1989-2014)[5] ist sie dabei, sich ein neues Modell zu geben, dessen Effektivität, Akzeptanz und Nachhaltigkeit sicher bald getestet werden.

Dieses Modell besteht in der Akzeptanz des technokratischen Charakters des europäischen Überbaus als politisch neutrale Verwaltung im Dienste souveräner demokratischer Staaten: ein Europa, das von diesen souveränen Staaten beauftragt wird, die Autobahnen, Datennetze, Finanzmechanismen und andere Infrastrukturen zu bauen, auf denen die Mitgliedsstaaten aufsetzen, um ihren jeweiligen Wohlstand zu sichern; ein Europa-Supermarkt, aus dem sich jeder Staat das nimmt, was er braucht, um seine Wahlversprechen zu bedienen; ein Europa-Werkzeugkasten, der den Staaten hilft, sich wieder mit ihren Bürgern zu verbinden; …

Ein gutes Beispiel für dieses Modell sind die Bankenunion, die Kapitalmarktunion, die gemeinsame Währung (digital oder nicht) und die Euro-Bonds, die es heute der gesamten EU ermöglichen, ihren Binnenhandel zu fördern, Kredite zu Vorzugszinsen auf den internationalen Märkten aufzunehmen und endlich eine Finanzierungskapazität von Projekten in der Größenordnung des Kontinents in Angriff zu nehmen; ein anderes ist dieses Europa der Energie[6], in dem die strategischen Entscheidungen von jedem einzelnen an eine gemeinsame Infrastruktur angeschlossen sind, die Verhandlungsmacht und strategische Unabhängigkeit gegenüber den Lieferanten garantiert.

Abbildung 1 – Europas Gasversorgungsnetz (Pipelines und LNG-Terminals) – Quelle zusammengestellt von CRS’s Geospatial Information Systems, EverCRSReport, 26/02/2020

 

Dieses Modell ist natürlich kein „Ende“ (so etwas gibt es in der Geschichte nicht), aber es ist in diesem Stadium wahrscheinlich das vernünftigste, da es allen Widerstand gegen politischere (europäische Demokratie von F. Biancheri) und/oder zentralistischere (föderales Europa) Visionen umgeht und uns erlaubt, wieder anfangen, vorwärts zu gehen.

Allerdings könnte dieses unpolitische Europa schnell über die Gefahren stolpern, die mit der Inkohärenz der globalen Positionierung verbunden sind, die dieses Modell hervorruft … Der Streit hat bereits begonnen zwischen einem Deutschland, das ganz in der Logik des gerade beschriebenen Modells versucht ist, die gemeinsame Verteidigung in die Hände eines dritten Landes zu legen (in diesem Fall die Vereinigten Staaten auf dem Weg über die NATO), das dann dafür verantwortlich ist, alle in Übereinstimmung zu bringen; und einem Frankreich, das sich hartnäckig für ein strategisch unabhängiges Europa einsetzt und dabei einem Prinzip folgt, das zwar eminent legitim ist, aber derzeit nicht anwendbar ist angesichts des Fehlens eines demokratischen Mandats und/oder einer Verständigung zwischen Staaten zur Legitimierung einer gemeinsamen Außenpolitik (insbesondere im Kontext eines globalen Führungskriegs zwischen den USA und China, der sich nicht so bald auflösen wird).

Dieser Streit wird das neue Modell wahrscheinlich schnell zum Entgleisen bringen … es sei denn, er bietet den Rahmen für kreative Lösungen.

Beruhigung der öffentlichen Meinung

In dieser schematischen Themenlandschaft der Herausforderungen für das kommende Jahrzehnt fehlen allerdings noch die Bevölkerungen der Welt. Und tatsächlich laufen sie Gefahr, in der Aufbauphase dieses neuen digitalen Zeitalters ins Abseits zu geraten. Wir antizipieren, dass sie selbst kryptisiert und digitalisiert werden[7] und nicht mehr in der Lage sein werden, positiv zur Gestaltung der neuen Welt beizutragen: Fehlen einer gemeinsamen politischen Vision, unzureichende Modelle der Bildung und Information, atavistischer Widerstand gegen Veränderungen, Ablehnung der wissenschaftlichen Rationalität, … Über die Grenzen hinweg gruppieren sich die Bevölkerungen in großen Gemeinschaften von Gewissheiten, die bereit sind, gegeneinander zu kämpfen.

Auf westlicher Seite zeichnen sich aus dieser Kakophonie bereits zwei durch ihre zunehmende Polarisierung radikalisierte Lager ab:

. ein radikalisiertes „international-progressives[8]“ Lager, das bereit ist, jeden zu lynchen, der sich nicht in seine Reihen eingliedert in die Kämpfe für Frauen- und Homosexuellenrechte, gegen Rassismus (nur den gegen Schwarze), für Ökologie und Tierschutz … Kämpfe, bei denen es behauptet, der einzige legitime Träger zu sein; flankiert von  vollkommen kritiklosem Medienfeuer nähren seine Thesen die dumpfe Wut der anderen Seite …

. ein ebenso radikales „identitär-reaktionäres“ Lager, das sich die Mission gegeben hat, die westliche Zivilisation zu retten und zur gesellschaftlichen und moralischen Ordnung zurückzukehren und die Reihen um eine jüdisch-christliche Identität zu schließen, bereit, alle „Anderen“ zu lynchen – ein Lager, das umso gefährlicher ist, als es darauf geachtet hat, weit weg von den Scheinwerfern groß zu werden, vor denen es sich zu hüten gelernt hat und die es zu kontrollieren weiß (wir werden noch ausführlich auf diese aufkommende Bewegung zurückkommen, die uns die Menschlichkeit der verhassten Populisten herbeisehnen lassen wird).

Es ist absehbar, dass die Rationalität des Bürgers zwischen diesen beiden Lagern gehörig missbraucht werden wird.

Versuch, das Schlimmste zu vermeiden

Die Art und Weise, wie man den menschlichen Faktor der Instabilität in den  Griff bekommt, wird je nach Land, Regierung und Zeitpunkt durch eine Vielzahl von Methoden geschehen, von der Neuerfindung der Bildungssysteme, um die Bürger an die Realitäten der neuen Welt heranzuführen, bis hin zur einfachen Abschaltung ganzer Bevölkerungsgruppen – nach dem Modell, das vor vier Jahren in den USA begonnen wurde und dazu führte, dass 74 Millionen Trump-Wählern, die beschuldigt wurden, tollwütig (und rassistisch) zu sein, das Bürgerrecht – und eine faire Behandlung durch die Medien – entzogen wurde[9][10]; oder, vor 18 Monaten, durch das „demokratische“ Indien, das beschloss, 10 Millionen des Terrorismus beschuldigte Kaschmiris dauerhaft von der Welt abzuschneiden[11].

Von den Entscheidungen, die die Länder treffen werden, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederherzustellen, wird aber ihr folgender Einfluss in der Welt abhängen: Diejenigen, die die einfachen Wege des brutalen Totalitarismus wählen werden, werden sich hintangestellt sehen im Vergleich zu denjenigen, denen es gelingen wird, im allgemeinen Chaos dieser so grauen Morgenröte den Kurs der Rationalität und des Humanismus beizubehalten, und die damit ihr Modell durchsetzen.

Aber die Komplexität der Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, und die Macht der Werkzeuge zur Kontrolle des Denkens versprechen vor allem den Beginn einer Ära, die den Dystopien ähnelt, die sich die Science-Fiction-Autoren des 20. Jahrhunderts ausmalten, eine wahre „Schöne neue Welt“. Es ist nicht einmal mehr originell, dies zu sagen.

Diskussion in der GEAB Community auf LinkedIn

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GEAB-Café im Januar!

Diese schematische Landschaft des kommenden Jahrzehnts bildet den Rahmen für unser gewohntes Januar-Panorama der Trends des Jahres für Europa und die Welt in den Bereichen Gesellschaft, Geopolitik, Wirtschaft und Finanzen … Trends, zu deren Diskussion wir Sie einladen in unserem nächsten GEAB-Café (diesmal auf Englisch) am Dienstag, den 19. Januar, von 18:00 bis 19:15 Uhr.

Registrierungen bei Geta Grama-Moldovan: [email protected] (nur für Abonnenten)

 

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[1]  Quelle: EUObserver, 11.01.2021

[2]  Die digitale Technologie ist keine neue Erfindung, aber bis 2020 blieb das Internet ein Werkzeug im Dienste der materiellen Welt. Nun hat es sich fast umgedreht … die materielle Welt ist in jedem Fall nur der Rahmen einer durchdigitalisierten Gesellschaft (menschliche Gesellschaft, Produktion, Wirtschaft, Handel, Zahlungsmittel, Arbeit, Unterhaltung, Krieg, …).

[3]  In Vielfalt geeint. Europäisches Motto.

[4]  … und alle Modelle der regionalen Integration: ASEAN, Afrikanische Union und Europäische Union sind derzeit die Modelle von Staatengemeinschaften, deren Beobachtung am interessantesten ist.

[5]  Vom Fall der Mauer bis zu ihrer Erneuerung mit der Ukraine-Krise.

[6]  Man denke an den kürzlichen Anschluss von aserbaidschanischem Gas an das europäische Energienetz. Quelle: S& PGlobal, 04.01.2021

[7]  In der letzten Ausgabe sprachen wir über die Unterwelt, aus der die Welt von Morgen hervorgehen würde (Geheimagenten, Terroristen, Mafias). Quelle: GEAB, 15/12/2020. In diesem Monat antizipieren wir, dass die Bürger in einer umgekehrten Bewegung sich einer „digitalen Partisanenbewegung“ anschließen werden als Antwort auf den Maulkorb, der von den Demokratien übrig geblieben ist. Wir werden auf diesen Begriff im Panorama 2021 zurückkommen.

[8]  Dieses Lager stellt insbesondere das Paradoxon dar, „fortschrittlich“ zu sein und gleichzeitig eine Art zivilisatorischen Selbstmord zu befürworten: Kein Konsum mehr, keine Kinder mehr, kein Fleisch mehr, keine Geschlechter mehr, …

[9]  Quelle: IPSNews, 25/11/2020

[10]  Zwischen den Äußerungen von Merkel, Macron und anderen scheint es so, als ob Europa beginnt, sich aufzuregen über die Zensur durch private Unternehmen von Twitter-Accounts von Präsidenten, die von „unfehlbaren“ (in den Worten der Demokraten) Demokratien gewählt wurden. Quelle: AlJazeera, 11/01/2020

[11]  Quelle: GeoTV, 08.01.2021

Kommentare

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Zusammenfassung

Nach dem Jahr der „Besinnung“, das die Corona-Pause der Menschheit beschert hat, lässt uns das Jahr 1 der Welt von Morgen bzw. des „digitalen Zeitalters“ die Welt „hinter den Spiegeln“ [...]

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