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GEAB 163

Der monatliche Informationsbrief des Laboratoire européen d'Anticipation Politique (LEAP) - 15 Mrz 2022

Russland-Ukraine: Welche neue Weltordnung?

Zu den wenigen Gewissheiten, die man im Zusammenhang mit dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine formulieren kann, gehört diese: Dieser Krieg ist das Ende des Kalten Krieges! … vor allem, weil er jetzt „heiß“ geworden ist, was alles verändert.

Wie wir bereits beim Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan im letzten September festgestellt haben[1], war 1989 nicht das Ende, sondern der Anfang vom Ende des Kalten Krieges, ein Prozess, der 33 Jahre gedauert hat und jetzt seine Auflösung findet: in einem westlichen Sieg, in einem die roten Linien des russischen Akteurs akzeptierenden Kompromissabkommen oder in einem großen pandemonischen Hexensabbat, der die Karten des globalen Spiels völlig neu mischt.

In jedem Fall ist der Krieg zwischen Russland und der Ukraine dabei, alle Prinzipien und Institutionen der alten Weltordnung zu Fall zu bringen. Denn wir antizipieren, dass weder die NATO, noch die EU, noch die UNO, … unbeschadet aus dieser großen historischen Krise hervorgehen werden.

Wir sollten uns also fragen, mit welchen Prozessen und in Richtung welcher Endpunkte wir uns jetzt auf den Weg machen, wobei wir insbesondere zwischen zwei Hauptszenarien unterscheiden sollten: dem schnellen Szenario, in dem sich Russen und Ukrainer in den nächsten Tagen/Wochen auf einen Kompromiss einigen und wir in eine Welt geschickt werden, in der der Westen ein Pfeiler bleibt; und dem langen Szenario, in dem sich Russland in der Ukraine verstrickt und der gesamte Westen in diesem Treibsand versinkt.

Die Kontemplation des Abgrunds

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind beide Szenarien noch möglich.

Wohin uns Russland und die Vereinigten Staaten derzeit leiten, ist nicht mehr und nicht weniger als eine Betrachtung des Abgrunds: Während die Russen das Risiko eines dritten Weltkriegs, die Möglichkeit eines Angriffs auf Atomkraftwerke[2], die Aussicht auf Giga-Cyber-Attacken[3], … an die Wand malen, stellen die Amerikaner ihrerseits einen Zusammenbruch der weltweiten Volkswirtschaften in Aussicht, verursacht durch ein Spiel von Sanktionen, das das gesamte globale Handels- und Produktionsmodell brutal aushebelt[4]. In beiden Fällen wird es Hunderte von Millionen an Toten, Hungernden, Flüchtlingen, nicht behandelten Kranken, … geben[5].

Betrachten wir also einige Aspekte der Katastrophe:

. Die Lieferung von Militärgütern an die Ukraine[6] und die Verteilung von Waffen an Zivilisten durch die Regierung[7] werden dazu beitragen, den Waffenhandel in Richtung Westeuropa wieder anzukurbeln, der früher dem Balkan vorbehalten war (insbesondere durch den Kosovo-Krieg) und direkt die Terrorwelle der 2010er Jahre nährte[8] (dieses Problem hat übrigens schon vor der russischen Invasion begonnen[9]).

. Die „Milizisierung“ des Krieges zwischen Russland und der Ukraine (Bewaffnung von Privat- und Bürgermilizen auf ukrainischer Seite[10], Rückgriff auf Söldner[11]) in einem soziologischen Kontext der militärischen Vorbereitung der Jugend durch Videospiele[12] und der Jagd auf Action nach dem Ende der Corona-Lockdowns[13], ganz zu schweigen von multifaktoriellen männlichen sexuellen Frustrationen[14], bietet alle „Zutaten“, um Europa in die afrikanische Problematik der Kindersoldaten zu kippen[15]. Wir haben dieses Phänomen beim Terrorismus am Werk gesehen, dieser wird einstimmig verurteilt; aber was ist von diesem Trend zu halten, wenn Regierungen ihn zu unterstützen beginnen?

. Konfrontiert mit dieser geplanten Verrohung eines Teils der Jugend sind westlichen Gesellschaften, die ultra-abhängig sind von ihrem komplexen und globalisierten sozioökonomischen Modell. Einige europäische Länder sind zwar in der Lage, sich so zu organisieren, dass sie ihre Bevölkerung in Kriegszeiten ernähren und mit Energie versorgen können (z. B. Frankreich[16]), aber das ist nicht überall der Fall und die europäischen Solidaritäten werden in einem Kontext von Nahrungsmittel- und Energieknappheit, in dem „Jeder für sich selbst“ die erste Regel ist, nicht lange standhalten.

Abbildung 1: Grad der Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln nach Ländern – Welt 2005-2009. Quelle: Jennifer Clapp

 

. Der Schrecken des Atomkriegs wird den Europäern von Russland und der Ukraine aus entgegengesetzten Gründen (die Russen, um Furcht zu verbreiten, die Ukrainer, um den Westen zum Eingreifen zu zwingen[17]) vor Augen geführt, durch die Aussicht auf einen „Unfall“ mit einem Atomkraftwerk oder sogar auf die Anwendung von Nuklearwaffen[18] – eine Anwendung, die teilweise wieder „legal“ geworden ist, seit Donald Trump aus dem amerikanisch-russischen Atomabrüstungsvertrag INF ausgestiegen ist[19].

. Putin blockiert derzeit die Unterzeichnung des Vertrags mit dem Iran vor allem deshalb, um seine Inszenierung einer großen Energiekrise glaubwürdiger zu machen[20] und zu demonstrieren, dass er den Schlüssel für diese Krise in der Hand hält. Damit erinnert er nicht nur daran, dass Russland kein Land ist, das man in der aktuellen globalen Konstellation zu einer vernachlässigbaren Macht degradieren kann, sondern er beteiligt sich auch an dieser Inszenierung der Apokalypse, die die ganze Welt dazu bringen soll, Zelenski aufzufordern, die Verhandlungsbedingungen zu akzeptieren.

. Die Möglichkeit russischer Angriffe auf Unterwasserkommunikationskabel[21] oder auf Satelliten[22] zwingt dazu, sich Szenarien wie Barjavels „Ravage“[23] vorzustellen, in denen unsere von diesen Kommunikationstechnologien ultra-abhängigen Gesellschaften vollständig zusammenbrechen und in ihrem Gefolge das gesamte Digitalisierungsprojekt, an dem sich der Westen und die Welt seit zehn Jahren die Zähne ausbeißen und das tausende von Milliarden Dollar/Euro verschlungen hat, die sich in einem solchen Szenario plötzlich in Luft auflösen würden, was eine definitive Krise des gesamten Finanzsystems, der Fintech-Projekte und der digitalen Währungen, … auslösen würde[24].

Die Zukunft, so wie wir sie uns vorgestellt haben, ist einfach nicht mit dem Niveau der geopolitischen Spannungen vereinbar, auf dem wir uns derzeit befinden. Diese Betrachtung ist nichts anderes als ein Akt der kollektiven Antizipation, der die betroffenen Akteure zu einem rettenden geopolitischen Sprung zwingen soll (erstes schnelles Szenario) … solange sich nicht eines der Schafe vom Schwindel ergriffen in den Abgrund  stürzt und die ganze Herde mit sich reißt (zweites langes Szenario).

Die angestrebte Auflösung

Solange das Verhältnis zwischen Russland und der EU kalt ist (und das ist mindestens seit 2014 der Fall), wird die Ukraine zerrissen werden.

Die einzige wünschenswerte Lösung für die Ukraine ist ein schnelles Kriegsende, basierend auf einer „Versöhnung“ zwischen den beiden großen Nachbarn EU und Russland, durch die Vermittlung der großen Alliierten aus der Region (Türkei und Israel), mit dem Blankoscheck Chinas, um zu verhindern, dass sich die Frontlinie einfach von Europa-Russland nach Russland-China verschiebt, alles mit dem Segen eines Amerikas, das der Tatsache Rechnung trägt, dass Europa seine Dienste im Bereich der Sicherheit nicht mehr benötigt und dass es diese Haushaltsmittel für dringendere Notwendigkeiten einsetzen kann (Cybersicherheit, Wiederaufbau des eigenen Landes und der eigenen Wirtschaft, asiatischer Pivot, …).

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Zusammenfassung

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