Home Editorial: Wie die Ukraine-Krise das Aufkommen eines neuen globalen Mittelalters beschleunigt

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Der monatliche Informationsbrief des Laboratoire européen d'Anticipation Politique (LEAP) - 15 Apr 2022

Editorial: Wie die Ukraine-Krise das Aufkommen eines neuen globalen Mittelalters beschleunigt

Es ist keine bipolare Welt, die aus dem Krieg, den der Westen und Russland derzeit gegeneinander führen, hervorgehen wird. Sondern schlicht und einfach der Zusammenbruch einer 500jährigen eurozentrierten globalen Zivilisation, in deren Zentrum insbesondere Europa, Russland und die Ukraine stehen; dieser wird aber auch die Vereinigten Staaten und China und den Rest der Welt mitreißen, nicht unbedingt in den von einer phantasielosen Presse antizipierten Weltkrieg, sondern in einen politisch-wirtschaftlichen Paradigmenwechsel, der alles andere als ein Spaziergang sein wird.

Die völlige politische Unfähigkeit, diesen Zusammenbruch aufzuhalten – eine Tatsache, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, trotz all unserer Bemühungen, die unzähligen klugen Entscheidungsträger ausfindig zu machen, die in den letzten sechzehn Jahren versucht haben, Einfluss zu nehmen – erreicht nun ihren äußersten Limes, was jetzt noch von der absurden Arroganz eines Westens getarnt wird, der sich nur als unbesiegbar sehen kann.

Im letzten Monat sprachen wir über die Zeitachse des Krieges in der Ukraine. Obwohl es damals noch möglich war, sich einen schnellen und konstruktiven Ausgang auf der Grundlage eines Friedensabkommens „Neutralität gegen Integrität“ vorzustellen[1], wussten wir, dass wir schon im nächsten Monat zum Umdenken gezwungen sein würden. Die Schlammschlacht ist mittlerweile in vollem Gange und wird von jenen gewollt, die glauben, dass dies der Weg ist, um das russische Establishment dazu zu bringen, Putin loszuwerden (unser zweites Szenario) und so zu einem Frieden zu den alleinigen Bedingungen des Westens zu gelangen.

Diese Strategie hat den Fehler, dass sie Putins Popularität nicht berücksichtigt, die nicht allein die Frucht der Propaganda ist, sondern vor allem die einer Geschichte, die der Westen nicht mehr verstehen kann, da der Zweite Weltkrieg (der „große patriotische Krieg“ der Russen, in dem 27 Millionen von ihnen ihr Leben verloren[2]) nur noch mit dem Völkermord an den Juden in Verbindung gebracht wird, während ein weiterer Völkermord auf das Konto der Nazis geht, nämlich der Völkermord an der slawischen Kultur und Sprache.

Der Westen verdrängt zu Unrecht die „Germanisierung“, der insbesondere Belarus und die Ukraine in dieser Zeit ausgesetzt waren[3] und die in den Ohren der Russen unheilvoll widerhallte, als der ukrainische Präsident Poroschenko sich daran machte, die russische Sprache und Kultur in der Ukraine zu verbieten[4], um nur dieses Beispiel zu nennen. Eine Entmachtung Putins wird nicht ausreichen, um die russische Öffentlichkeit zu einer wohlwollenderen Haltung gegenüber einem Westen zu bewegen, der eine lange Arbeit an der Auslöschung des kollektiven Gedächtnisses zu leisten hätte, um seine Ziele der „Versöhnung“ zu erreichen.

Das ist übrigens auch der Grund, warum das russische Establishment, unabhängig von seinen wirtschaftlichen Interessen, zögern wird, Putin loszuwerden. Was uns also unserem dritten Szenario näherbringt, dem Katastrophenszenario, in dem das gesamte westliche Zivilisationsmodell unter dem doppelten Getöse von Krieg und Hungersnot zusammenbricht.

Tatsächlich geben sich jetzt die europäischen Gesandtschaften in Moskau die Klinke in die Hand (Frankreich, Deutschland, Österreich) und kommen mit leeren Händen zurück, weil die USA gleichzeitig nicht aufhören, Waffen an die Ukraine schicken. Putin hat es bereits gesagt, es nützt ihm nichts, mit Leuten zu verhandeln, die nichts zu sagen haben. Die ganze Welt befindet sich also auf einer Rodelbahn in die Hölle.

Hier und da liest man noch, dass die Krise die Europäer wieder zusammenschweißt. Das stimmt nur scheinbar und nur falls der Frieden in erreichbarer Nähe liegt. Doch je weiter der Frieden entfernt ist, desto mehr werden sich die Europäer spalten. Die französischen Wahlen zeigen bereits die mächtigen Auswirkungen der Krise auf die Wahlchancen Macrons, der in der Tat von der ersten Kriegsperiode profitierte, aber unter dieser neuen Phase, in der sich die Hoffnungslosigkeit ankündigt, leidet. Das geht so weit, dass wir glauben, dass er im Fall seines Erfolges diesen der Tatsache zu verdanken haben wird, dass die Wahl im April und nicht wie geplant im Mai stattgefunden hat. Wir glauben, dass Macrons Chancen auf eine Wiederwahl einen Monat später im Minus liegen. Wahrscheinlich wird er es noch schaffen, bevor das Fallbeil fällt, aber wie wir in dieser Ausgabe erläutern, wird es für ihn sehr schwer sein, gemäß seiner euro-liberalen DNA zu regieren (d.h. überhaupt zu regieren). Das Parlament sowie seine öffentliche Meinung werden ihn zwingen, sich weiter und weiter davon zu entfernen, und er wird ein zunehmend anachronistisches Aussehen annehmen: ein Klassenbester mitten im Dschungel …

Eine doppelte Verschiebung der Gegebenheiten  wird die gesamte europäische Politik weit weg von der Doxa (der Selbstverständlichkeit) der letzten Jahre befördern:

. Das Friedensprojekt Europa scheitert. Von nun an gibt es zwei Möglichkeiten:  Entweder verschwindet es und die Gefahr von innereuropäischem Krieg kehrt zurück oder es verwandelt sich in ein monolithisches Projekt, in dem alle gleich denken müssen, um nicht ausgeschlossen zu werden. Diese Tendenz wird bereits durch die Ambitionen der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen nahegelegt, die die guten Ukrainer im Schnellverfahren aufnehmen[5] und den bösen Ungarn die Unterstützung streichen will[6] – nach einem Modell, das dem ziemlich ähnlich ist, woran die regionale Integration Südamerikas bisher gescheitert ist, nämlich daran, dass nur gleichgesinnte Länder sich einigen konnten (OAS oder pro-amerikanische Pazifik-Allianz versus CELAC oder bolivarische Andengemeinschaft …[7]).

. Was den Liberalismus betrifft, so wird dieser durch die monströse Wohlstandskrise in Verbindung mit der galoppierenden Inflation, welche durch die Ukraine-Krise noch verschlimmert wurde, beendet. Auch hier gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder führt ein völliger Zusammenbruch der Handlungsfähigkeit der Staaten die Völker in einen demografischen Schock durch Hunger- und Seuchenkrisen oder es werden starke Staaten auf der Grundlage von Preiskontrollen und Planwirtschaft errichtet.

All dies geschieht vor dem Hintergrund einer allgemeinen Explosion der öffentlichen Ausgaben, die uns dem „Star Wars“-Szenario näher bringt, das dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums vorausgegangen sein soll[8]. Trotz der Arroganz eines Westens, der sich weiterhin über seine Verschuldung lustig macht (nachdem er die gesamte Dritte Welt während mehrerer postkolonialer Jahrzehnte zu Sparmaßnahmen und Rückzahlungen gezwungen hat), ist es schwer vorstellbar, wie der Besitz von 70% der weltweiten Schulden den Westen auf unbestimmte Zeit dazu berechtigen könnte, sich als wohlhabende und belehrende Gesellschaften zu präsentieren.

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Zusammenfassung

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