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GEAB 149

Der monatliche Informationsbrief des Laboratoire européen d'Anticipation Politique (LEAP) - 15 Nov 2020

Corona, NATO, Migration … Flashback aller europäischen Krisen

Mit der Verkündigung des Sieges des demokratischen Kandidaten bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen durch die Medien durchlebt Europa eine letzte dieser großen kollektiven Halluzinationen, die wir letzten Monat hier im GEAB beschrieben haben: „Mit Biden ist Amerika zurück und die Welt ist gerettet!“ Und die guten Nachrichten strömen herein, angefangen mit der Entdeckung eines Wunderimpfstoffs durch den amerikanischen Pharmariesen Pfizer (entwickelt von der deutschen Firma Biontech als starkes Symbol für die „Wiedervereinigung“ der beiden Seiten des Nordatlantiks[1]). Wenige Tage nach der Ankündigung fand eine Börsenrallye statt[2]. Wir werden also in die wunderbare Welt zurückkehren, die vor 2016 (vor der Wahl von Trump) herrschte … gerade als wäre sie wunderbar gewesen, diese Welt der Finanzkrisen (2008), der Kriege im Nahen und Mittleren Osten (Syrien 2011), der Logik des Kalten Krieges (Ukraine 2014), der großen Bevölkerungsverschiebungen (Migranten 2015), des Zerfalls der EU (Brexit 2016)  … und vor allem genau so, als gäbe es in der Geschichte einen „Rewind“-Knopf.

Der im letzten Monat hervorgehobene Trend „zurück zur Realität“ wird daher bald wieder einsetzen. Und diese Realität wird immer deutlicher und wird unseres Erachtens die Form einer riesigen Injektion von Erinnerungen annehmen an all die Krisen, die Europa in den letzten Jahren durchlebt hat, und sogar an ältere, die nur teilweise gelöst werden konnten: eine Serie von „zweiten Wellen“ – und zwar von Monsterwellen[3].

Dieses Thema der Schocks, die sehr bald in Europa und der Welt zuschlagen werden, durchzieht diese ganze sehr dunkle Ausgabe des GEAB. Dieser erste Artikel versucht zu zeigen, in welchem Maße Europa diesen aus vielen Richtungen kommenden Rückfällen von Krisen ausgesetzt sein wird.

Europa, der Kreuzungspunkt der Welt

Man muss zugeben, dass Europa in diesem Jahr 2020 der Kontinent ist, der den Winden der Weltgeschichte am stärksten ausgesetzt ist. Die globale systemische Krise, die wir seit 15 Jahren beschreiben, nimmt die Geschichte auseinander, eine Geschichte, die eher europäisch als amerikanisch ist, schon allein deshalb, weil Amerika eine europäische Schöpfung ist.

Als der GEAB im Jahr 2006 seine Arbeit zur „globalen systemischen Krise“ begann, verkündete er deutlich „das Ende des Westens, wie wir ihn seit 1945 kennen“. Wir haben jedoch oft bemerkt, dass das, was jetzt zu Ende geht, über diesen relativ kurzen Zeitraum hinausgeht und eine längere Seite der Geschichte umfasst, nämlich diejenige, die von Europa im 15. und 16. Jahrhundert mit dem Zeitalter der Entdeckungen eröffnet wurde.

Wir antizipieren, dass all die transformativen Wellen, die Europa seit gut einem halben Jahrtausend über den Planeten geschickt hat, sich gerade dazu anschicken, als Bumerang zurückzukommen.

„Ja“, Europa ist das Zentrum der Geschichte der letzten 500 Jahre! „Ja“, diese Tatsache ist gerade dabei, wieder aufzutauchen. „Nein“, fürchten wir jetzt und konträr zu der positiven, von uns im Juni-GEAB aufgestellten Antizipation einer Rückkehr in Richtung Europa, das ist alles andere als eine gute Nachricht!

Der wesentliche Grund dafür ist, dass Europa mit dem Fall der Mauer vor 30 Jahren aufgehört hat, sein Projekt der Union zu konsolidieren, und sich dafür entschieden hat, eine Freihandelszone statt einer politischen Union zu werden. Infolgedessen hat es sich nicht so verändert, dass es in der Lage wäre, sich der großen Verantwortung zu stellen, die seine historische Rolle ihm in dem immensen globalen Systemwechsel des letzten Jahrzehnts auferlegte.

Europa mit Rückenwind

Diese offensichtliche Rolle, die die europäische Ebene zu spielen hatte, um das kontinentale Schiff in vollem Sturm zu sichern, zeigt die aktuelle Pandemie deutlich. Und tatsächlich sieht man zwei Frauen, Christine Lagarde und Ursula von der Leyen, hart daran arbeiten, tausendundein Projekte anzugehen: der EU durch einen Green Deal eine Bedeutung zu geben[4], ein widerstandsfähiges Europa aufzubauen[5], ein Europa der Gesundheit zu errichten[6], den Kontinent durch die Einführung des digitalen Euro zu emanzipieren[7], die Bankenunion abzuschließen und eine Kapitalmarktunion zu beginnen[8], ein „single window“ für die Zollunion zu schaffen[9] … Und es funktioniert!

. Die Meinungsverschiedenheiten scheinen bereits zurückzugehen, angefangen mit Großbritannien, das, wie wir im vergangenen März antizipiert haben[10], jetzt für alle Kompromisse bereit ist, damit es nicht aufgegeben wird, und den Brexitarchitekten Dominic Cummings aus der Downing Street 10 wirft[11].

. Die ersten Eurobonds, die Ende Oktober von der EZB ausgegeben wurden, waren ein durchschlagender Erfolg: Während die EZB hoffte, 17 Milliarden Euro aufzunehmen, überstiegen die Order 233 Milliarden[12]!

. Das Parlament steht kurz davor, den 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbauplan zu akzeptieren, der in diesem Sommer mühsam ausgehandelt wurde[13].

. Italien, Spanien und Polen haben gerade die ersten europäischen Hilfen erhalten (17 Milliarden aus dem SURE-Programm).[14]

. usw. … Frage: wer weiß über all das Bescheid?

Die Grenzen des europäischen Geldautomaten

LEAP stellte kürzlich die Frage: „Ist die Generation Europa noch europäisch?“[15]. Nach drei Jahrzehnten der Verachtung durch die europäischen Eliten hat die Generation X, die das sich ihr Ende der achtziger Jahre anbietende Projekt der Konsolidierung Europas ergriffen hatte, das Handtuch geworfen, und diese Entwicklung setzte schon vor 15 Jahre ein. Infolgedessen gibt es immer noch keine Euro-Bürger, keine europäischen Parteien, keine europäischen Medien von nennenswerter Größe, nicht einmal transeuropäische Wahlen, die diesen Namen verdienen … und deshalb handelt die Europäische Kommission derzeit losgelöst, in vollständigster Indifferenz.

Derzeit sind sich alle wegen der ziemlich gleichmäßig verteilten Auswirkungen der Pandemie (ähnlich der Auswirkungen eines Krieges) über die Aktivierung des europäischen Geldautomaten einig, aber reicht dies aus, um die Verbindungen zwischen den Europäern zu stärken? Sicherlich nicht: Die Staaten behalten die Kontrolle über ihre Herden, die immer weiter ferngehalten und ungebildet über die Realitäten der sie regierenden Institutionen und Mechanismen sind, und machen mit dem Geld, was sie wollen, wie Polen, das gerade für 18 Milliarden Euro Nuklearreaktoren bei den Amerikanern bestellt hat[16], wie man sich vorstellen kann zur großen Enttäuschung von Frankreich[17]. Angesichts der Gefahr einer dauerhaften Verlangsamung der europäischen Wirtschaft sollten wir uns auch fragen, ob es für lange Zeit Geld für alle geben wird und wann die Spannungen wegen der Zuteilung von Geldern zunehmen werden: Wenn die Krankenhäuser bereits ankündigen, dass sie, wenn alle Betten belegt sind, die Mutter von vier Kindern bevorzugt vor dem alten Menschen behandeln müssen, fragt man sich, ob sich der Zugang zu europäischen Geldern bald in eine Schlammschlacht entwickeln wird?

Insbesondere muss Europa weiter Geld kreieren bzw. finden angesichts der Pandemie-Hilfen[18], der Kosten des grünen Übergangs in den nächsten zehn Jahren[19], der Höhe der Investitionen in das Europa der Gesundheit[20], der Aufrüstung des Griechenlands von Mitsotakis[21], der indirekten Finanzierung der amerikanischen Wirtschaft[22], die wir weiter unten beschreiben werden, …

Abbildung 1: Eine Welt der Schulden – Quelle: Visual Capitalist 2019

 

Natürlich funktioniert Covid19 wie ein Krieg: die Zerstörung der Wirtschaft erlaubt es, hinterher eine Periode starken Wachstums und starker Inflation zu erzeugen und die wird dann diese „Welt der Schulden“ verdünnen. Der Morgen lässt also grüßen für den Planeten und für Europa! Und trotzdem … 

Kommentare

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Zusammenfassung

Mit diesem Artikel öffnet sich das LEAP-Team einer nicht so breit bekannten Dimension der Welt des 21. Jahrhunderts: der Cyberwelt, in der eine Gesellschaft außerhalb jedes normativen Rahmens sich entwickelt, [...]

Während die Welt noch ihre Corona-Toten zählt und die Folgen dieser Krise auf ihre Finanzmärkte, ihre Wirtschaft und ihre Gesellschaft projiziert, ist es vielleicht schon an der Zeit zu fragen, [...]

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